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Mein Kopf… (Date Nr. 3 + 4)

3. Mai 2011

Хороший день…

Fast eine Woche ist nun vergangen, seit meine Schwester und ich Prussias Einladung gefolgt und mit ihm, Doitsu und diesem verdrehten Spaghettifresser Romano in einem mit überkoffeinisierten Justin Bieber-Fans vollgestopften Flugzeug nach Australien geflogen sind – und der einzige Grund, weshalb ich diese Farce erst jetzt mittels eines Blogeintrages revue passieren zu lassen gedenke, liegt schlicht darin, dass ich nach meiner Heimkehr körperlich wie seelisch vollkommen erschlagen war und mehrere Tage der Ruhe benötigt habe, bevor ich überhaupt wieder daran denken konnte, mich dem Verfassen eines neuen Artikels zu widmen.
Was es über unseren Besuch ‚down under‘ zu berichten gibt?
Im Prinzip nicht viel.
Das einzige, was mir während dieser drei Tage aufgefallen ist, kann ich im Prinzip zu fünf Punkten zusammenfassen…

  1. Es war warm.
  2. Doitsu, Prussia und Romano waren rund um die Uhr betrunken, vulgo dauerblau.
  3. Justin Bieber-Fans schreien extrem laut, extrem gern und extrem viel, und wähnen sich darüber hinaus noch im Besitz extrem leistungsfähiger Lungen. Selbst jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, habe ich immer noch dieses lästige, dünne Pfeifen in den Ohren.
  4. In Australien bremst man für Beuteltiere.
  5. Sydney kann eigentlich eine doch recht adrette Stadt sein, wenn man die Umstände ignoriert, wegen derer man dorthin gereist ist.

 Da sowohl Prussia als auch Doitsu und Romano mich und meine Schwester die meiste Zeit über – wie man im Volksmund so schön sagt – links liegen ließen, ersparten wir uns den langen, anstrengenden Weg durch die wogenden, kreischenden, rosa Pullover tragende Menschenmassen Richtung Acer Stadium und entschieden uns stattdessen für den Besuch eines hübschen kleinen Parks ganz in der Nähe. Zwar hatte ich gegenüber Belarus ein leicht schlechtes Gewissen, da ich vor unserer Abreise eigentlich noch den Eindruck gehabt hatte, dass sie sich auf das Konzert freuen würde, doch nachdem sie mir mehrfach versichert hatte, dass ihr der eigentliche Zweck unserer Reise gleichgültig sei, solange sie in meiner Nähe sein könne, ließen wir Justin Bieber einfach Justin Bieber sein und genossen einen gemeinschaftlichen Spaziergang zwischen blühenden Bäumen und geschmackvoll arrangierten Blumenbeeten.

 (Ein nettes Plätzchen mit interessant aussehenden Vögeln. Die australische Fauna ist in der Tat mehr als nur einen Schnappschuss wert.)

Nach ein oder zwei Rundgängen nahmen wir bei einem kleinen Café am Rande des Parks noch jeweils eine heiße Schokolade ein und machten uns schließlich wieder auf den Rückweg zum Acer Stadium, um unseren hoffnungslos betrunkenen Anhang abzufangen.
Die drei armen Kreaturen waren vollkommen von Sinnen, redeten wirr und schienen von dem Tumult der unzähligen Fans dazu noch halb taub zu sein, sodass es beinahe schon an ein Wunder grenzte, dass sie ohne fremde Hilfe zum Hotel zurückfanden. Dort angekommen hatte ich mich eigentlich darauf gefreut, wenigstens die letzte Nacht in Sydney noch in Frieden zu verbringen, ehe es an der Zeit war, den Flieger Richtung Heimat zu besteigen, doch wurde auch dieser Keim der Hoffnung zunichte gemacht, da Prussia, Doitsu und Romano, beflügelt von Alkohol und stickiger Konzertluft, derartig laut in ihren Zimmern umherbramarbasierten, dass an Schlaf beim besten Willen nicht zu denken war.
Am nächsten Tag verkündete Prussia, dass man vor der endgültigen Heimreise noch einen schnellen Abstecher nach London zu machen gedenke, um die Hochzeit (wie hießen diese beiden britischen Jammergestalten gleich wieder?) live mitverfolgen zu können. Ich hieß diese Schnapsidee freudig willkommen, um einen Schlussstrich unter unsere fragwürdige Verabredung zu ziehen und  überließ Belarus, die bereits seit ihrer Kindheit eine Schwäche für märchenhafte Hochzeiten hat, Doitsus Obhut, da er von den Dreien noch den klarsten Kopf zu haben schien, ehe ich das erstbeste Expressflugzeug Richtung Moskau bestieg, das ich erwischen konnte.
Was ich daraus gelernt habe?
Sollte Prussia mich jemals wieder auf eine Veranstaltung zu schleppen beabsichtigen, die er in einem Anflug von alkoholdurchgärtem Humor als ‚Date‘ bezeichnet, werde ich ihm einen Besuch abstatten und ihm seine Einladung in den Rachen stopfen dieselben Worte benutzen wie einst Jimmy Carter – thanks, but no, thanks.
Glücklicherweise war heute der freudige Tag, an dem Ukraine und ich uns zum gemeinschaftlichen Backen und Fernsehen in ihrem Haus verabredet hatten, und so konnte ich bei hausgemachten Haferkeksen und ‚Desperate Housewives‘ wieder ein wenig zur Ruhe kommen. Das versprochene Autogramm von Justin Bieber hatte ich Ukraine leider nicht beschaffen können, doch zum Ausgleich schenkte ich ihr ein großes Blumenbouquet, das Belarus und ich eigenhändig aus den Blumen des Parks gebastelt hatten.
Es ist für mich auch noch heute eines der schönsten Gefühle, von meiner großen Schwester geknuddelt zu werden wie ein Plüschbär, und so hinderte ich sie auch keineswegs daran, genau das zu tun.
Zwar wurde unser DVD-Abend von einem aufgeregten Anruf Americas unterbrochen, der mir unbedingt in allen Details die Erschießung Osama Bin Ladens schildern wollte, doch da ich mich ungern stören lasse, wenn ich mit meinen Schwestern beisammen bin, vertagten wir dieses abenteuerliche Gespräch auf ein andermal.
Vor der Bettruhe sollte ich noch mein Käterchen füttern; daher an dieser Stelle nun genug der Details.
Bis demnächst, und До скорой встречи!

– RUSSIA

Edit: Danke für das Autogramm, Nee-san… ich schicke es Ukraine gleich morgen. Vorher sollte Lithuania lieber noch das Blut und die Hirnmasse aus dem Fanpullover waschen. Nur um des Gesamtbildes willen, du verstehst.

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Ostern… damals und heute

25. April 2011

Хороший день, meine Lieben, und euch allen noch nachträglich frohe Ostern – Христос воскрес!

So geht ein weiteres Osterfest ins Land, und wie jedes Jahr bin ich im Nachhinein sehr froh, dass sich trotz der üblichen Kommunikationsschwierigkeiten fast alle Mitglieder der ehemaligen sowjetischen Familie versammelt haben, um gemeinsam mit mir und meinen Schwestern dieses größte und schönste religiöse Ereignis unserer aller Kulturen zu feiern.
(Nihon konnte aufgrund nachvollziehbarer Umstände leider nicht erscheinen, Poland lag mit einem Zuckerschock im Bett, und Prussia sende ich keine Einladung mehr, seit er mir auf eine davon mit einem Paket geantwortet hat, in dem ich einen kahlrasierten Pferdekopf vorfand… dieser hängt mittlerweile in knöchernem Zustande über meinem Kamin.)
Wenn ich auf die vergangenen Tage unseres Daseins als große und stolze Union zurückblicke, stelle ich immer wieder fest, dass es trotz all der Differenzen zwischen uns einzelnen Mitgliedsstaaten immer wieder Dinge gab, die uns selbst in Momenten größten Zweifels zu Brüdern einte – und das Osterfest nimmt für mich eindeutig einen Platz in der Liste dieser Dinge ein, denn obwohl unser gemeinsamer Weg von hartem Stein und oft auch von Blut und Entbehrung gepflastert war, hinderte uns dies sowohl damals als auch am heutigen Tage nicht, in geselligem Beisammensein zu feiern, zu lachen, zu singen und zu vergessen. Denn Ostern bedeutet für uns nicht nur die Auferstehung Christi, sondern auch einen Tag des freudigen Beisammenseins im Familienkreis, und nicht zuletzt eine Jahrhunderte alte Tradition, die es zu ehren und zu wahren gilt, bei der es keine Rolle spielt, ob man nun gläubiger Christ, Agnostiker oder Atheist ist, oder welcher Generation man angehört.
Da ich dieses Jahr für die Rolle des Gastgebers auserkoren worden war, kümmerten Ukraine, Belarus und ich uns um sämtliche anfallende Ostervorbereitungen – und diese bestanden freilich nicht nur in einem raschen Gang zum Milchmann nebenan, das sollte ich vielleicht noch hinzufügen. Nachdem wir mit vereinten Kräften die Küche auf Vordermann gebracht und einmal von vorn bis hinten durchgeputzt hatten, machten Belarus-nee-san und ich uns ans Eierfärben (50 Körbe à 120 Eier… ächz), während Ukraine sich um das Backen der Osterbrötchen und Quarkkuchen kümmerte, die in meiner Heimat traditionellerweise zum großen Osteressen gereicht werden (ich freue mich jedesmal, wenn Ukraine-nee-san den Osterkuchen macht, sie ist eine wunderbare Bäckerin.). Anschließend kochten wir zu dritt den großen Osterschinken, flochten Weidenzweige und Blumen für die Tafeldekoration zu Kränzen, suchten das passende Tischgedeck aus, bestellten das Kammerorchester für eine angemessene musikalische Unterhaltung, bastelten Geschenknester für den anfallenden Friedhofsbesuch (ja, beim russischen Osterfest wird den Toten ebenso wie den Lebenden gedacht) und holten für die Ostermesse unsere Festtagsgarderobe aus den Schränken.
Der Gottesdienst zu Ostern ist für mich eines der schönsten Ereignisse des Jahres, denn meiner Meinung nach beinhaltet er alles, was einen lohnenswerten Kirchenbesuch ausmachen sollte – eine heitere, farbenfrohe Festprozession, Freudengesang zur Stunde der aufgehenden Sonne, Fröhlichkeit, Besinnlichkeit, Reinigung. Sobald der frühmorgendliche Gang um das christliche Kreuz die festliche Zeremonie beendet und der Ruf ‚Воистину воскрес!‘ ertönt, ist es für uns alle an der Zeit, das zu tun, was in meiner Heimat Христование genannt wird – ein Akt der Brüderlichkeit und der Versöhnung, bei dem man sich einander in die Arme fällt, küsst und alles verzeiht, was dem jeweils anderen im vergangenen Jahr an Missgeschicken und Fehlern unterlaufen ist. Ich glaube, Belarus gefällt diese Tradition von uns allen noch am besten, denn sobald wir den Osterkuss ausgetauscht haben, will sie meistens gar nicht mehr damit aufhören. Letztes Jahr habe ich fast drei Stunden gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass es ganz bestimmt bis zum nächsten Mal vorhält, wenn man sich 455902mal (oder waren es 455903mal?) küsst und verzeiht.
Das warme, sonnige Wetter erlaubte uns sogar, das Osterbankett draußen im Garten abzuhalten, wo Lithuania auf meine Bitte hin noch einige Sonnenblumen aus meinem Gewächshaus eingepflanzt hatte (es müssen um die 300-400 Stück gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere. Einfach ein prachtvoller Anblick!) und das Kammerorchester, eine Hand voll äußerst resolvierter, gaudibereiter Musiker, bereits ihre Instrumente aufgebaut hatte, um nach unserer Rückkehr vom Friedhof zum Tanz aufzuspielen.
Was für ein Spektakel! Das Osterfest ist einer der wenigen Tage im Jahr, an denen ich meine sonstigen Vorbehalte gegen allzu lebhafte Feierlichkeiten ablege und mich wahrlich nicht scheue, mich unter die allgemeine Heiterkeit zu mischen und solange zu tanzen, bis ich entweder mit jedem Gast mindestens einmal die Ehre hatte oder meine Füße einfach nicht mehr mitspielen (und bei meiner, bescheidentlich angemerkt, doch recht großen Ausdauer ist meistens eher ersteres der Fall.). ‚Sollte das kommende Jahr nur Kummer für dich bereithalten, solltest du wenigstens am Ostertag fröhlich sein‘ – ein am Tag des Osterfestes oft zitiertes Sprichwort meines Volkes, an das ich mich Jahr für Jahr getreulich halte, und das nicht nur beim Tanzen.
Viele glauben es mir nicht, doch ich lache gern. Und am Ostertag tue ich dies aus lauterstem Herzen. Immer.
Schade war dabei nur, dass wir die Feier bereits am frühen Abend beenden mussten, da Belarus und ich am morgigen Tag in den Flieger Richtung Sydney steigen müssen, um Prussias Einladung nachzukommen, und daher noch einige Sachen zusammen zu packen hatten (seufz). Nur gut, dass Ukraine, Eesti, Liet und Latvia sich bereit erklärt hatten, mir beim Aufräumen ein wenig unter die Arme zu greifen, denn sonst würde ich jetzt, wo ich dies schreibe, vermutlich immer noch im Garten umherirren und Wodkagläser einsammeln.
Nun, mittlerweile sind die Koffer gepackt und die letzten Gäste verabschiedet, und ich nutze die ruhigen Stunden des Abends, um noch ein wenig mit meinen Schwestern zusammen zu sitzen. Ukraine hat mich um ein Autogramm von Justin Bieber gebeten, hoffentlich sind die Fans dieses sonderbaren Individuums nicht derartig neurotisch veranlagt wie die augenauskratzende, in sämtlichen existierenden Tonlagen zu kreischen befähigte Fangemeinde von Tokio Hotel, von deren Gewaltexzessen bereits öfter als einmal in der Moskowskije Nowosti berichtet wurde…
Ich schätze, am vernünftigsten wird es wohl sein, einfach das Beste zu hoffen und mit möglichst guten Erwartungen dort hinein zu gehen. Und letzten Endes möchte ich meine kleine Schwester nicht enttäuschen, indem ich einfach absage, denn ich habe den Eindruck, dass sie sich im Gegensatz zu mir bereits auf dieses Date freut, und das möchte ich ihr nun wirklich nicht nehmen. Sie ist durchgeknallt und will mich heiraten, aber sie ist und bleibt meine Schwester.
An dieser Stelle verabschiede ich mich für heute, die Abendnachrichten fangen demnächst an, und ich möchte Ukraine noch nach Hause bringen.
Vielen Dank für eure tatkräftige Unterstützung, ihr beiden! Ihr seid die Besten!

До скорой встречи!
– RUSSIA

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Wiener Blut (Date Nr. 2)

22. April 2011

Хороший день, meine lieben Leser!

Nachdem ich den vergangenen Tag hauptsächlich dazu genutzt hatte, mich von den Nachwirkungen des zweitägigen Zusammentreffens mit America-kun zu erholen (in anderen Worten, von dem Genuss diverser Alkoholika, dem Durchqueren ganzer Meuten von Koreanern und Chinesen, extraordinärer körperlicher Ertüchtigung, et cetera), und darüber hinaus das eine oder andere dringliche Regierungsgeschäft zu tätigen, brach ich bereits am heutigen Morgen erneut Richtung Flughafen auf – diesmal allerdings mit Wien als Reiseziel.
Die Stadt des Walzers, des strahlenden Frühlings, der Mozartkugeln und der polierten Lackschuhe – wahrlich, es gibt schlimmere Endstationen, wenn einer eine Reise tut.
Dank der Tatsache, dass es sich bei der Strecke von Moskau nach Wien um einen doch etwas kürzeren Weg als den von Moskau nach Sacramento handelt, und dass nach dem Flug keine eineinhalbstündige Autofahrt bis zum endgültigen Zielort mehr anstand, befand ich mich auch bei deutlich wacheren Sinnen, als ich nach glücklicher Beendigung meiner Reise aus dem Flugzeug stieg und Austria mich am Gate in Empfang nahm. Da das Wetter auch heute ganz ausgezeichnet war (Sonnenschein mit einer leichten Sommerbrise unter einem wolkenlosen Himmel) und die Hotels in den Straßen Wiens sich mit ihrem Blumenarrangement förmlich gegenseitig übertrumpften, schlug mein aristokratischer Gastgeber vor, den geplanten Nachmittagstee in seiner von ihm präferierten Wiener Residenz, Schloss Schönbrunn, einzunehmen.

 (Eine durchaus eindrucksvolle Niederlassung. Am meisten haben mir immer noch die Grünflächen und Gärten gefallen. In Anbetracht dieser peniblen, bis ins letzte Detail stimmigen Pflege ist es bei Licht betrachtet gar kein Wunder, dass der Begriff ‚wienern‘ schon längst einen festen Bestandteil unserer Reinlichkeitssprache ausmacht.)

Nach einem gemeinsamen Spaziergang durch die Grünanlagen und botanischen Gärten Schönbrunns (in der Tat ein zutreffender Name!) war es auch schon Zeit für den Nachmittagstee, und obwohl es in Austrias Heimat eigentlich üblich ist, in den Mittagsstunden Kaffee mit reichlich Milch und Kandis zum Kuchen auszuschenken, bat er mich darum, den Samowar benutzen zu dürfen, den ich eigens von zuhause mitgebracht hatte, da er ebenso etwas über meine Sitten und Gebräuche lernen wollte wie ich über die Seinen, und darüber hinaus schon eine Menge über diese traditionsreiche russische Art der Teezubereitung gehört und gelesen hatte. Zu dem Schwarztee, den wir auf diese Weise in geselliger Zusammenarbeit kochten, gab es typisch wienerische Vanillekipferl (ich kann dieses Wort einfach nicht aussprechen, und es war sowohl für Austria als auch für mich eine erheiternde Angelegenheit, es ungeachtet dessen wieder und wieder zu versuchen) und natürlich Sachertorte.

 (Eine unbestrittene Gaumenfreude für jeden, der den Genuss von Gebäckwaren zur Teestunde schätzt. In meiner Heimat ist das Angebot an Süßigkeiten ebenfalls alles andere als spärlich gesät, doch ich habe noch nie von einer Spezerei gekostet, die meine Geschmacksnerven derartig zum Schmachten bringt.)

Unsere gepflegte Konversation, die schon an den Stufen des Flugterminals ihren Anfang genommen hatte, litt jedoch keineswegs unter der Einführung in die Bedienung eines Samowars, sogar im Gegenteil. Ich verstehe die Nationen einfach nicht, die steif und fest behaupten, bei Austria handle es sich um einen arroganten, spitzenhemdtragenden Lackaffen, mit dem man kein vernünftiges Wort wechseln könne, da er sich höchstens von seiner goldenen Wolke herabschwingen würde, wenn dabei etwas für ihn selbst herausspringt (na schön, das mit den Spitzenhemden stimmt. Aber sie stehen ihm gut.). Ich erzählte ihm von Prussias unausgegorener Einladung zu diesem Justin Bieber-Konzert – denn immerhin kennt Austria ihn ja doch schon etwas länger als ich, auch wenn das wohl eher auf die Rolle Schlesiens zurückzuführen ist – woraufhin er mir jedoch nur erklärte, dass der Junge öfter von solch sonderbaren Launen heimgesucht werde, meistens in Form eines fast krankhaften Dranges, irgendetwas Neues, Unkonventionelles, Unerhörtes auszuprobieren und dabei möglichst viele Unschuldige mit hineinzuziehen, um im Falle einer Blamage nicht allein dazustehen. Ausgefuchst, ja, und manchmal auch mit ziemlich desaströsen Folgen (als Beispiel nannte Austria mir Prussias Idee, sich zum Wohle der Armee Ostpreußens näher mit dem damals noch exotischen Fach der Nervenheilkunde zu befassen, was jedoch nur damit endete, dass Wilhelm II. bei einer Schlägerei mit seinem Nervenarzt im See vor seinem Landsitz ertrank), jedoch solle ich mir deswegen keine allzu großen Sorgen machen, denn Prussia sei zu noch viel bizarreren Handlungen fähig. Der Vorschlag, ein Justin Bieber-Konzert zu besuchen, sei für Prussias Verhältnisse daher noch am ehesten mit einem britischen Beefsteak zu vergleichen – etwas ungewohnt und vielleicht nicht jedermanns Geschmack, doch immerhin ganz annehmbar, wenn man es von außen betrachtet und nicht zu lange darin herumstochert. Ich verzichtete dankend auf die Nennung weiterer Beispiele, und Austria schien mir meinen Kummer auch anzusehen, denn er ließ das Thema ebenfalls ruhen und bat mich stattdessen, dass ich ihm etwas auf dem Klavier vorspielen möge, da er schon seit unserem ersten Zusammentreffen unter Privatmännern darauf hoffe, durch mich eine Kostprobe russischer Klassik zu hören zu bekommen. Verlegen gestimmt durch solch aufrichtige, respektvolle Worte konnte ich gar nicht anders als zuzusagen – allein schon, um mich im Gegenzug ebenfalls an seiner Musik zu erfreuen, denn schließlich habe ich schon ebenso viel über die wundervollen Walzer Strauss‘ gelesen wie er über die Schönheit der Kompositionen Tchaikowskys. Zur Wahrung der Gastgeberpflichten überließ er mir den Vortritt, und obwohl ich in den letzten Jahren eigentlich kaum dazu gekommen bin, mich an mein altes Klavier zu setzen (wie das eben so ist – irgendetwas kommt einem immer dazwischen. Und hinzu kommt, dass mein Käterchen das Klavier mittlerweile als besonders bequemen Schlafplatz zu betrachten scheint), bekam ich die ersten fünf Seiten von Tchaikowskys  1. Klavierkonzert op. 23 in b-Moll zustande, ohne andauernd innehalten zu müssen. Eines der Herzstücke seines Schaffens, wie ich finde. Ein leichtes Leben hatte der gute Pjotr nicht, und all die Entbehrungen, das Streben nach Anerkennung und das rastlose Dasein als Komponist hallen unüberhörbar in seiner Musik nach – eine Meinung, die Austria widerspruchslos mit mir teilte, nachdem ich geendet hatte. In den Melodien der Komponisten meiner Heimat schwinge eine tiefe, heißblütige Melancholie mit, wie er festgestellt hätte, traumverloren und sehnsüchtig, und gleichzeitig rau und hungrig auf Leben, auf Lieben – Anmut, Leidenschaft und Trauer, alle Drei für sich allein stehend und dennoch solid vereint. Die Musik, wie Strauss sie zu Papier gebracht hat (als Beispiel wählte Austria ‚An der schönen blauen Donau‘) erweckt dagegen einen vollkommen anderen Eindruck – leicht, beschwingt und voller Frohsinn, und dennoch mit ernsthafter Hingabe an die Kunst, die der Schöpfung zugrundeliegt. Fast erinnerte sie mich ein wenig an Austria selbst.
Ist die Musik eines Landes nicht letztlich ein Spiegel seiner Seele?
Austria vermutete, dass sich durch die Unterschiede in unseren Volksweisen bestimmt auch unsere Art zu tanzen unterscheiden würde – und ich denke mal, dass es ebendieser Gedankenstoß war, der uns dazu brachte, den Salon zu verlassen und genau dieser Annahme nachzugehen.

 (Es ging bereits auf den frühen Abend zu, daher das üppige Beleuchtungsaufgebot. Ein wirklich hübscher Ort zum Tanzen, auch wenn wir statt einem Orchester lediglich einen Plattenspieler zur Verfügung hatten.)

Wie lange habe ich schon nicht mehr getanzt! Das letzte Mal muss jetzt schon einige hundert Jahre zurückliegen, wahrscheinlich war es bei einem der Ballabende, die sich damals, als ich noch ein Zarenreich und keine Föderation war, größter Beliebtheit erfreuten – ich fühle jetzt noch meinen Arm um Zarin Elisabeths schlanke Taille und den leichten Druck ihrer Hand auf meiner Schulter, während wir, getragen von den Klängen der Violinen, quer durch den Ballsaal in den von Lichterschein erfüllten Garten hinausschwebten und fesche Lieutenants der Zarengarde wie wild an ihren Schnurrbärten zwirbelten. Die Erinnerung an diese feierlichen Zeiten war es wohl auch, die mir den für diese Angelegenheit nötigen Schwung verlieh, sodass ich problemlos in die alte Schrittfolge zurückfand. Um auch hier eine gerechte Verteilung der Rollen zu gewährleisten, übernahmen wir beide jeweils einmal den Männer- sowie den Frauenpart, ebenso wie bei Austrias Demonstration seines geliebten Wiener Walzers.
Eine wirklich vergnügliche Angelegenheit. Dieses beständige Wiegen in den Schritten, so leicht und elegant, stets getragen vom Taktschlag der Musik! Ein herrliches Gefühl, das mir deutlich klarmachte, weshalb dieser Tanz so fest in Austrias Heimat verwurzelt ist. In vielen heute gängigen Liedern ist die Parole ‚dance the night away‘ fast schon ein obligatorischer Bestandteil des Textes, doch die volle Bedeutung dieser Worte erfuhr ich erst jetzt, da wir bis in den späten Abend hinein tanzten und darüber glatt vergaßen, dass meine Maschine Richtung Heimat schon längst abgeflogen war und ich dadurch den letztmöglichen Nachtflug Wien-Moskau beanspruchen musste – um zwei Uhr morgens. Aufgrund dieser späten Erkenntnis mussten wir uns leider etwas überstürzt verabschieden, doch wenigstens gelang es uns noch, Telefonnummern auszutauschen, bevor eine übernächtigte Flugbegleiterin mich energisch durch die Sicherheitskontrolle Richtung Gate zerrte.
Ein wirklich netter Nachmittag, für den ich Austria sehr dankbar bin. Was mich anbelangt, so werde ich meine gewonnenen Erkenntnisse in Sachen Walzer auf jeden Fall für unsere nächste Verabredung frisch halten, und sei es, dass ich dafür Lithuania als Tanzpartner missbrauchen muss. Doch fürs Erste stehen in meinem Haus erst einmal die Vorbereitungen für das Osterfest an, weshalb ich mich an dieser Stelle auch empfehlen werde – die Ostereier müssen noch bemalt werden, Ukraine ruft gerade nach mir.
Bis einstweilen, und До свидания!

– RUSSIA

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The Water’s Edge (Date Nr. 1)

20. April 2011

Добрый вечер!

Heute Morgen war es also soweit – die erste Verabredung auf meiner Liste stand an. Und dafür, dass ich sie als ‚gemeinschaftlichen Nachmittag‘ in meinen Terminkalender eingetragen hatte, nahm sie bereits zu sehr früher Stunde ihren Anfang – genauer gesagt um drei Uhr morgens, denn es galt noch einige letzte Einkäufe für den heimischen Haushalt zu erledigen sowie eine Unterredung mit Lithuania abzuhalten, die die anfallenden Besorgungen für die Tage meiner Abwesenheit betraf, ehe ich letztendlich mit Sack und Pack das Flugzeug besteigen konnte, das mich von Moskau ohne Zwischenlandung geradewegs nach Sacramento bringen sollte. So viele Zeitzonen! Nach einer Weile (spätestens zwischen dem zweiten Bordmenü und dem Verdauungsschnaps) wusste ich schon gar nicht mehr, ob  ich mich noch im Heute oder schon längst im Morgen befand, und als ich endlich vor dem Sacramento International Airport stand und ein wenig frische Luft schnappen konnte, war ich zugegebenermaßen doch erleichtert, dass America dort bereits auf mich wartete (mit einem für meinen Geschmack etwas zu ausgebufften Chevrolet Corvette Z03) und ich nicht noch mehr Zeit in dem von Großfamilien, biederen Müttern mit noch biedereren Umgangsformen, in den bizarrsten Tonlagen kreischenden Kleinkindern und vor sich hinorakelnden Rentnern überladenen Gate totschlagen musste. Duty Free-Shops sind etwas Großartiges, doch irgendwann erheitert einen nicht einmal mehr der Anblick von überteuertem Herrenmarzipan, wenn man dieses bereits bei seinen letzten fünf Rundgängen bewundern durfte.
Während wir den Freeway Richtung Beverly Hills hinunterfuhren, die kalifornische Sonne von einem strahlend blauen Himmel auf uns herabschien und ich die Gelegenheit willkommen hieß, ein wenig die Beine baumeln zu lassen (eine Prise frischer Fahrtwind kann nach einem langen, nervenaufreibenden Flug durch diverse Zeitzonen wirklich gut tun. Und America versicherte mir, dass es bei ihm zuhause mehr oder weniger normal sei, während des Autofahrens irgendetwas aus dem Fenster hängen zu lassen, egal ob es nun Füße, ein Hund, eine Waffe oder die geköpfte Leiche des Nachbarn sei), gingen wir gemeinsam Americas Vorschläge für einen stimmungsvollen Nachmittag auf amerikanische Art durch. Bei diesen handelte es sich um 1. eine Stippvisite bei McDonald’s, 2. einen Tag am Strand von Beverly Hills, 3. einen Besuch im Beverly Hills Sea Planet und 4. einen entspannten Nachmittag in seiner Residenz handelte. Nun, was soll ich sagen? Ich liebe Aquarien, und da mein letzter Besuch in einem Aquarium bereits um Jahrzehnte zurückliegt, entschieden wir uns letztendlich dafür, bevor es an den Swimmingpool gehen konnte. Mit dem Wagen waren es von Americas Niederlassung keine zwanzig Minuten bis zu Beverly Hills Sea Planet – und dafür, dass es sich um die größte staatsinterne Ausstellung von marinem Leben aller Art handelt, bewegen sich die Preise auf einem überraschend angenehmen Niveau, auch wenn wir vor dem Eingang erst eine halbe Stunde lang herumdiskutieren mussten, ob ich Americas Einladung nun annehme oder doch selbst bezahle. (Eine Debatte, die America klar für sich entschied. Man mag ja einiges an diesen Amerikanern auszusetzen finden, doch dass es sich bei ihnen um ein Volk handelt, bei dem Großzügigkeit zu den Grundtugenden zählt, kann niemand bestreiten.)

 (Einfach ein atemberaubender Ausblick. Ich habe einen der rastlos dort umherziehenden Touristenguides, der gerade keine Gruppe von polaroidbewaffneten Koreanern umherscheuchen musste, gebeten, uns beide vor Americas Lieblingsbecken abzulichten.)

Wie man weiß, bin ich nicht gerade dafür bekannt, vor allem und jedem in Ehrfurcht zu erstarren, das im Landesführer als ‚Sehenswürdigkeit‘ verzeichnet ist, doch bei der Beobachtung all dieses Lebens, das vor unseren staunenden Augen vorbeizog und uns, lediglich getrennt durch eine Scheibe Glas, stolz wie eine einzige große Nation die schillernden Farben der Meere und Ozeane präsentierte, kam ich einfach nicht umhin, America meine Begeisterung auszusprechen. Zwar schienen gerade Gruppenrabbatte wieder sehr in Mode zu sein, denn immer wieder wurden ganze Schwärme von Chinesen, Kanadiern und vor allem Koreanern an uns vorbeigespült, doch da dieses lustige Völkchen den Eineinhalb Meter-Punkt als die äußerste Grenze menschlichen Wachstums zu betrachten scheint und durch meine Gegenwart in dieser Auffassung kompromisslos widerlegt wurde, stellte es uns vor keine sonderlichen Schwierigkeiten, überall bequem durchzukommen und die weit aufgerissenen Augen und Münder mit hübscher Regelmäßigkeit hinter uns zu lassen. Am dringlichsten zog es America zu den Walhaien, während ich persönlich für die Doktorfische die größte Sympathie empfand, da mich ihr Gesichtsausdruck ein wenig an den Estonias erinnerte, den er jedesmal spazieren trägt, wenn man ihm eins mit der Kohlenschaufel überzieht. Die größte Attraktion war und blieb für mich jedoch immer noch der Souvenirshop, in den America mich nach Beendigung unseres Rundganges ohne jede Duldung eines Widerspruchs hineinzerrte. Noch so eine Sache, wofür ich dieses Volk immer wieder bewundere – es hat die Fähigkeit entwickelt, selbst noch aus schierer Sinnlosigkeit Profit herauszuschlagen. Sinnlosigkeit in Form von überteuerten Plüschtieren, überteuerten Touristenmützen mit abstrusen Aufdrucken, die zweifellos nur irgendeiner Late Night-Talkshow entsprungen sein können (ein kleptomanisch grinsender Hai, aus dessen Maul die Worte ‚Beverly Hills Sea Planet – I was there!‘ entwuchsen, ein mit bunten Fähnchen und dem Spruch ‚Let me hold your hand, your hand, your hand, your hand, your hand, your hand, your hand, your hand!‘ ausstaffierter Oktopus und ein aufgepumpter Igelfisch mit einem Korken im Maul), überteuerten Billigpullovern mit noch viel abstruseren Aufdrucken, sowie eine ganze, überteuerte Sammlung sämtlicher im Aquarium lebender Tiefseekreaturen aus einem gummiartigen Material, das ein sehr penetrantes, chemisches Odeur verströmte. Da es den Pullover mit dem Doktorfischmotiv (‚Need a doctor? – Come to Beverly Hills Sea Planet!‘) in meiner Größe nicht gab, verzichtete ich auf unnötige weitere Ausgaben, während America sich standhaft weigerte, den Souvenirshop zu verlassen, ohne vorher mindestens ein Walhai-Plüschtier erstanden zu haben.
Die Stunde, die in sämtlichen alten Westernstreifen als High Noon bezeichnet wird, war angebrochen, und nachdem wir uns noch bei Pik Kahuna Burger einen schnellen Imbiss genehmigt hatten (von McDonald’s hatte ich America glücklicherweise abbringen können), fuhren wir auf direktem Wege zurück zu seiner Bleibe im Herzen von Beverly Hills.

 (America bezeichnete es als ’seine bescheidene Hütte‘. Eine bescheidene Hütte mit fünf Schlafzimmern, einem Swimmingpool mit den Ausmaßen eines Bombenschutzkellers,  zwei Springbrunnen im Vorgarten und zwei Partykellern, wie ich vielleicht noch anmerken sollte.)

Wirklich ein idyllisches kleines Fleckchen, auch wenn der architektonische Stil nicht ganz meinem Geschmack entsprach. Ich halte mich nicht für den Typ Land, der ohne weiteres den ganzen Tag herumliegen kann wie eine Made im Speck, dazu treibt mich viel zu oft der Drang um, etwas Nutzbringendes zu tun (noch so ein Vermächtnis der Sowjet-Ära), doch da ich diesmal als Privatmann unterwegs war und America darüber hinaus ein ganz vorzügliches Beispiel ablieferte, was man in Beverly Hills an einem warmen, sonnigen Tag tut, wenn ein Schwimmbecken, ein ganzer Kühlschrank mit Drinks und beste Fernsehunterhaltung winken, tat ich es ihm einfach gleich – ich ließ mich auf einer der Liegen nieder, legte die Beine hoch, staffierte mich mit Sonnenbrille und Sonnenmilch aus, ließ mir einen Whisky on the rocks geben und einigte mich mit meinem Gastgeber auf die Jeff Dunham Show. Bauchredner, die mit sich selbst über die derzeitige politische Lage in den vereinigten Staaten streiten, empfand ich schon immer als erheiternd, und da Lästern bei Atommächten ohnehin zum guten Ton gehört, nutzten wir die Gelegenheit, um gemeinsam ein wenig über Mister George W. und Wladimir ‚Putty‘ Putin herzuziehen, während America seine beiden Walhai-Plüschtiere in den Pool warf, um zu testen, ob sie auch wirklich schwimmen konnten. Zum Nachmittag hin kletterten die Temperaturen derartig in die Höhe, dass nun auch wir unsere Badegarderobe herausholen und den Tierchen folgen konnten. Da der traditionelle sowjetische Badeanzug aufgrund der klimatischen Verhältnisse in meiner Heimat jedoch eher zum Rettungstauchen in Eiswasser als zum Verlustieren in einem Swimmingpool zu Sommerbeginn taugt und darüber hinaus mehr den Anschein eines überlangen Nachthemdes aus Neopren als den angemessener Badebekleidung erweckt, borgte mir America kurzerhand eine seiner Badehosen, auch wenn er sich beim Umziehen anfangs beschwerte, meine Haut würde das Sonnenlicht reflektieren (mein Teint ist nun einmal sehr hell. Das Abendessen bei Italia vor einigen Tagen war dieses Jahr das erste Mal, dass ich überhaupt richtig an die Sonne gekommen bin). Im Gegensatz zu mir konnte mein Gastgeber an den kalifornischen Stränden bereits einige Erfahrungen sammeln, was man in und an einem Swimmingpool alles veranstalten kann, und so ließ er es selbstverständlich auch nicht gelten, dass ich eigentlich nur ein wenig am Beckenrand sitzen und die Füße ins Wasser hängen lassen wollte, sondern weihte mich umgehend in die Kunst der Wasserschlacht ein.
Wirklich ein toller Spaß. Wozu braucht man Vollautomatiken und Bomben, wenn man ein mit Wasser gefülltes Becken zur Verfügung hat? So bereitet selbst Kriegsführung gleich ein wenig mehr Vergnügen. Und da Wasserschlachten nicht das einzige waren, was sich in Americas Register für gemeinschaftliche Badenachmittage befindet, war es für uns ein Leichtes, bis weit nach Sonnenuntergang beim Schwimmbecken zu bleiben und dort eine schlaflose Nacht zu verbringen. Ich glaube mich zu erinnern, dass wir zwischen fünf und sechs Uhr morgens noch einmal für eine kleine Spritztour Richtung Stadt losgezogen sind, um am Strand etwas frische Luft zu schnappen, in einigen Klubs vorbei zu schauen und uns mit frischen Getränken auszustatten, denn als ich am späten Mittag in einem der Schlafzimmer im Erdgeschoss zu mir kam, hatte ich meine Schuhe wieder an (allerdings waren sie nicht zugebunden). Wie man sich denken kann, war es in meinem Zustand denkbar unmöglich, ein Flugzeug zu besteigen, und so lud mich America ein, auch gleich noch die nächste Nacht über zu bleiben. Sich zu zweit von den Folgen einer durchfeierten Nacht zu erholen ist bedeutend unterhaltsamer, als wenn man dies alleine zu tun gezwungen ist.
Jetzt, wo ich dies schreibe, sitzen wir gerade bei Kaffee und Bagels im Garten (ja, wieder am Pool, denn America wollte mir noch seinen wasserfesten Fernseher zeigen) und plaudern noch ein wenig über dieses und jenes, bevor es an der Zeit ist, zum Flughafen zurück zu fahren. Der Himmel zeigt sein schönstes Blau, in den Bäumen singen die Vögel, und es ist so warm, dass es nun auch mir zu erfahren vergönnt ist, wie es sich anfühlt, im Schlafanzug zu frühstücken.
Ein schönes Gefühl. So luftig. Man fühlt sich gleich ein wenig freier.
Im Großen und Ganzen würde ich sagen, dass es sich auf jeden Fall gelohnt hat, hierher zu kommen. Dieses Land ist genau die richtige Haltestelle, wenn es Bedürfnisse zu befriedigen gilt, egal von welcher Art diese auch sei mögen. Wir haben für die kommende Woche gleich eine neue Verabredung festgesetzt, schließlich gehört es zum guten Ton, den Gefallen der Gastfreundschaft beizeiten zu erwidern.
… America braucht den Laptop zur Überprüfung seines World of Warcraft-Spielstandes, ich mache wohl besser Schluss. Bis einstweilen, und До скорой встречи!

– RUSSIA

Edit: Vielen Dank für den Doktorfisch-Pullover, America-kun! Er passt mir wie angegossen!
Bis nächste Woche!

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5 1/2 Dates

18. April 2011

Добрый вечер an alle Nationen dort draußen!

Nach Beendigung des heutigen Abendessens wollte ich mir noch ein wenig nostalgische Zerstreuung im stillen Kämmerlein gönnen und habe zu diesem Zweck eines meiner alten Fotoalben aus der Ära der Sowjetunion vom Dachboden geholt. Wie ich jedoch so durch die Seiten blätterte, in Erinnerungen schwelgte und dabei immer wieder Jahrzehnte alten Staub ausnieste, bekam ich den Eindruck, dass es – entgegen der Auffassung, die das althergebrachte Sprichwort ‚Die Zeiten ändern sich‘ vertritt – möglicherweise nicht nur die besagten Zeiten sind, die sich ändern, sondern auch die Nationen, die dem Fortschreiten dieser Zeiten ausgesetzt sind.
Und das wiederum führt mich immer wieder zu der gleichen Frage – habe ich mich verändert? Habe ich mich als Nation verändert? Bin ich ein anderer Russia geworden, seit die Tage des alten Glanzes vorbei sind, das Band zerrissen, das uns damals einte – seit ich allein bin? Oder bin ich immer noch derselbe wie damals, als ich nach der Pfeife von Stalin tanzen musste? Es gibt genügend Historiker, die behaupten, dass mich die Zeit unter seiner Führung in vielen Hinsichten entscheidend geprägt habe, und  an manchen Tagen würde ich ihnen nicht einmal widersprechen.

 (Ob ich etwas an ihm mochte? … Nun ja, ich mochte seinen Bart… es sah lustig aus, wenn sich mal wieder unzählige Krümel darin verfangen hatten… seufz.)

So manche Quelle besagt, dass damals, was den Umgang mit meinem Volk und mir anbelangte, im Prinzip nur eine Regel galt – „Erbarmen! – Zu spät, die Russen kommen!“
Oh ja, das war es, was den damaligen Vorzeigerussen auszeichnete – das Kommen. Er kam gern, er kam oft, und vor allem kam er überall hin, und das meistens sogar noch ohne präzisere Gründe. Und wen er nicht überfiel, ausraubte und erschoss, den folterte, verstümmelte, vergewaltigte oder lynchte er, wenn er einem denn nicht gleich Wodka über den Kopf goss und einen anschließend anzündete. Der Russe kam, weil das schließlich das einzige war, wofür er bekannt war, und wenn er kam, dann kam er auch richtig – alles im Dienste der großen, strahlenden, von Bruderliebe erfüllten Sowjetunion, allerdings ging dieser Vorsatz meistens vollkommen in dem furiosen Akt des Kommens unter.
Dies war der Rahmen, durch den die Welt mein Volk betrachtete, das Kosaken-Klischee, und wenn auch mal ich kam – der Russe von damals kam ums Kommen nicht herum – bekam ich dies auch deutlich zu spüren, denn egal wohin ich auch kam, küssten sämtliche Kinnladen den Erdboden, und das nicht unbedingt aus Freude.
Ich weiß, dass es kein sonderliches Kunststück ist, jemanden an den Pranger zu stellen, der schon längst tief unter der Erde liegt und dessen Rute man nicht mehr fürchten muss, aber es gibt immer noch Tage, an denen ich trotz des Sieges über Hitler immer noch Zweifel verspüre, wenn ich mir in Gedanken die Frage stelle, ob es nun gut oder schlecht war, Stalin damals als meinen Vorgesetzten akzeptiert zu haben. Es gab Tage, an denen wir so harmonisch beisammen sein konnten wie zwei alte Trinkkumpane bei Petruschkas Spiel auf der Balalaika, und es gab Tage, an denen er mich zu Dingen durchpeitschte, die ich aus freiem Willen heraus niemals getan hätte. Er konnte so warmherzig und liebevoll wie ein kinderreicher Vater sein, wenn man ihm einen Wunsch erfüllt hatte, und genau das brachte mich selbst in den dunkelsten, zerrissensten Momenten dazu, ihm bedingungslos zu Willen zu sein. Ich war vollkommen von seinem Wohlwollen abhängig, süchtig nach dieser Zärtlichkeit in seinen Augen, wenn ich etwas für ihn getan hatte, das er als gut und notwendig befunden hatte – und so fügte auch ich mich in diesen Rahmen, durch den mich die Welt sah, und verlegte mich aufs Kommen. Verspürte in den Momenten, in denen ich mich mal wieder nach diesem liebevollen Blick verzehrte, sogar selbst eine abgeschmackte, perverse Freude, wenn alle wie ein Schwarm von Enten auseinanderstoben, sobald ich meinen Fuß über eine Hausschwelle setzte.
Es ist schwer zu sagen, ob ich heute noch dieselbe Freude verspüre, wenn ich ein fremdes Haus betrete. Tatsache ist, dass ich während meiner Zeit unter Gorbatschow einige wichtige Dinge dazugelernt habe, was den Umgang mit anderen anbelangt – unter anderem auch, dass der Russe nicht immer nur kommen muss, um eine Existenzberechtigung zu haben, sondern auch einfach, um sich Freunde zu machen. Um zu zeigen, dass er nicht nur um des Kommens willen kommt, sondern um der Gemeinschaftlichkeit willen.
Es ist bis heute nicht leicht für mich, nach der Zeit unter Stalin nach so vollkommen anderen Prinzipien zu leben, doch vor allem in diesen letzten Monaten konnte ich spüren, dass sich all das Zweifeln und Hoffen lohnt.
Denn ich kann sehen, dass die Welt zu mir kommt. Und dass ich zur Welt kommen kann, ohne Bedenken.
Gut möglich, dass ich all diese Gedanken schon länger mit mir herumschleppe, aber ich schätze mal, dass sie mir eher aufgrund der Tatsache aufgekommen sind, dass ich in den nächsten beiden Wochen sage und schreibe 5 1/2 Verabredungen mit anderen Ländern habe und daher natürlich nun entsprechend aufgeregt bin. Ein absoluter Rekord! … Und da man bekanntlich B sagen sollte, wenn man auch schon A sagen konnte, hier ein Verzeichnis der Dates, die mich erwarten:

  1. Besuch bei America.

    Bei unserem letzten Telefonat kündigte America mir an, dass wir die Verabredung auf jeden Fall in seiner Niederlassung in Beverly Hills abhalten würden, er hätte bereits alles vorbereitet. Geplant sind bisher ein gemeinschaftliches Mittagessen, eine kleine Stadtrundfahrt und ein entspannter Nachmittag am Schwimmbecken, vielleicht mit anschließender Übernachtung, vielleicht auch nicht. Er will mir unter anderem eine seiner neusten technischen Errungenschaften zeigen, einen Fernseher, der selbst dann nicht kaputtgeht, wenn man ihn in den Pool wirft. Ich verstehe zwar nicht ganz, was jemanden dazu animieren könnte, einen Fernseher in ein mit chloriertem Wasser gefülltes Becken zu schmeißen, aber es ist und bleibt nun einmal America. Und Americaner finden bekanntlich für alles einen plausibel klingenden Grund – siehe Irakkrieg.
  2. Kneipentour mit Denmark-kun.

    In Kopenhagen gibt es das beste Aquavit der Welt – so Denmark-kun. Und da er anscheinend beabsichtigt, mir genau dies vor Augen zu führen, werden wir gemeinsam fünf oder sechs der beliebtesten Kopenhagener Klubs und Bars besuchen. Wie wir den Rest des Abends gestalten werden, steht noch nicht fest, aber ich vermute, dass es ohnehin nicht viel bringen würde, diesen Abschnitt unseres Treffens unnötig zu verplanen, denn wie ich Denmark-kun – und mich – kenne, werden wir uns bis zur schieren Bewusstlosigkeit volllaufen lassen und für den Nachhausweg ein Taxi mit bloßen Händen aufhalten mehr als nur eine Spirituose genehmigen. Vorsichtshalber werde ich meinen zweiten Reisekoffer ausschließlich mit Aspirin und Alkaselzer befüllen. Und vielleicht mit ein wenig Nasivin, denn wenn Denmark-kun und ich Alkohol konsumieren, komme ich danach jedesmal mit einer wunden Nase wieder zu mir.
  3. Tee bei Austria.

    Was gibt es Schöneres als eine gemütliche Tasse Tee in einem idyllischen Garten und mit gebildeter Konversation?  Vielleicht bringe ich ihn diesmal endlich dazu, mir etwas auf dem Klavier vorzuspielen, denn darauf hoffe ich bei ihm schon die ganze Zeit. Ich sponsere den Tee, Austria das Gebäck. (Sachertorte! Ein Hochgenuss!)
  4. Shoppen mit Italia.

    Noch bei unserem gemeinsamen Abendessen erzählte Italia mir, dass ihm nahezu seine sämtlichen Hosen zu groß seien und er dringend mal wieder nach Rom müsse, um sich das eine oder andere neue Stück zuzulegen. Ob ich nicht mitkommen wolle? Ich muss zugeben, meine Überraschung war groß, zu solch einer exquisiten Adresse für Mode eingeladen zu werden, doch bei Licht betrachtet könnte ich mir auch mal wieder einige neue Anzüge zulegen, von Schuhen und Freizeithemden ganz zu schweigen. Mal sehen, was Armani, Galvani und Kompanie mir bieten können. Ach ja, und wir hatten noch vor, in einer typisch römischen Gelateria ein Eis zu essen und uns das Kolosseum anzusehen. Solange es dort Bänke gibt, reicht mir dies bereits, um frohen Herzens dorthin gehen zu können, denn auf allzu langen Einkaufstouren bekomme ich meistens schreckliche Plattfüße…
  5. DVD-Abend mit Ukraine.

    Die nächsten 20 Folgen von Desperate Housewives stehen an… und dazu gibt es unsere gemeinsamen Lieblingskekse. Am Nachmittag wird gebacken, am Abend wird der Fernseher in Gang gesetzt und die frisch gemolkene Milch herausgeholt. Wie ich mich auf das liebe Gesicht und den mütterlichen Druck der übermächtigen Brust meiner Schwester freue!
  6. (oder eher 5 1/2tes Date…) Besuch eines Justin Bieber-Konzerts mit Doitsu, Prussia und Belarus
     

    Warum ich es nur als halbes Date bezeichne, obwohl Prussia es bei seinem letzten Anruf (vor weniger als einer Stunde) mir gegenüber als Doppeldate beschrieben hat? … Nun, weil ich immer noch nicht so wirklich weiß, worauf ich mich da eigentlich eingelassen habe… dass Prussia etwas im Schilde führt, womöglich mit der Absicht, mich vor aller Welt zu blamieren, steht für mich fest (weshalb ich es fast schon wieder bereue, zugesagt zu haben…). So gesehen ist es für mich fast wieder beruhigend zu wissen, dass auch meine kleine Schwester dabei sein wird, denn der Letzte, der mich in ihrer Gegenwart zum Narren halten wollte, kann heute in der biologisch-anthropologischen Ausstellung ‚Körperwelten‘ bewundert werden – in Form von handgerechten Einzelstücken. (Den Kopf wollte sie mir eigentlich schenken, aber den habe ich der Vollständigkeit halber auch abgegeben. Was ist eine Leiche schließlich ohne ihr Haupt…) Auf meinen sanften Einwand hin, dass es sich bei Justin Bieber wohl um den meistgehassten Sänger auf diesem Planeten handelt und es bestimmt keinen guten Eindruck erweckt, wenn wir nur nach Sydney reisen, um dieses sonderbare Individuum zu besichtigen, meinte Prussia nur, dass die Welt schon längst vom Bieber-Fieber ergriffen sei und ich ja von vorvorgestern wäre, dass ich das noch nicht bemerkt hätte. Soviel dazu. Bedenkzeit wurde mir im Prinzip auch nicht gelassen, von einigen Anstandsminuten vielleicht abgesehen. So füge ich mich denn in mein Schicksal (über einen ungefähren Verlauf des Abends habe ich natürlich auch noch nicht das Geringste gehört) und hoffe, dass ich ohne vollkommen zerstörtes Selbstwertgefühl wieder aus der ganzen Sache herauskomme… in Sydney soll es einige gute Bars geben. Wenigstens ein Lichtblick.

Soviel also dazu! Ich bin schon sehr gespannt, was diese beiden Wochen voller internationaler Begegnungen mit sich bringen werden (wobei die Spannung hier sehr relativ ist. Hust.), und natürlich wird es zu jedem Date einen exklusiven Bericht geben!
In diesem Sinne – До скорой встречи!

– RUSSIA

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Andere Länder, andere Sitten (Teil III)

17. April 2011

Привет всем, meine Lieben!

Nachdem ich all die Entbehrungen und Nervenqual der vergangenen Woche einigermaßen unversehrt an Leib und Seele überstanden habe und dank einem sporadischen Kurbesuch auch diese ärgerliche kleine Schusswunde der Vergangenheit angehört, entschied ich mich heute Morgen nach Beendigung des Frühstücks und einem langen Telefongespräch mit Denmark-kun, zumindest einen Bruchteil der Zeit wett zu machen, die ich in diesen unseligen letzten Tagen verloren habe, und mich gänzlich den beiden Dingen zu widmen, die mir während dieser Zeit am meisten abgegangen sind – kulturelle Interaktion und eine ausgewogene Ernährung.
Da es mich fast einen Arm gekostet hat, als ich das letzte Mal despektierlich über die Marke Pringles geredet habe, will ich meine Aussagen an dieser Stelle nicht wiederholen, aber fest steht dennoch, dass ich es nicht unbedingt weiterempfehlen würde, sich eine geschlagene Woche von nichts anderem als diesen abnorm flachgepressten, totfrittierten, mit Aromastoffen vollgepumpten Kartoffelmatschscheiben   unkonventionellen Knabberwaren zu ernähren, da es sich erstens todbringend auf die Geschmacksnerven auswirken kann und zweitens einen Atem zur Folge hat, der vermutlich sogar Dschingis Khan und dem Alten Fritz die Socken ausgezogen hätte (und die Mundpflege dieser beiden Charakterköpfe galt, wie in Historikerkreisen erzählt wird, als zwei der erschütterndsten Beispiele der Weltgeschichte) und der mich dazu animierte, mir am Morgen nach unserer Befreiung aus dem Salon geschätzte zweiunddreißig Mal die Zähne zu putzen.
Kurzum – kulinarische Abwechslung schadet nie, wie man im Volksmund so schön sagt, und daher war es für mich das Naheliegendste, zum Telefonhörer zu greifen und mich nach einem potenziellen Gastgeber umzuhorchen. Nach einem kurzen Anruf in der Residenz meiner Alliierten war dieser Gastgeber auch schon gefunden – Italia.

 (Ja, ich weiß, auf diesem Schnappschuss liegt er gerade im Bett. Ich hatte ihn mitten in der Siesta erwischt. Das war übrigens das erste Mal, dass ich ihn mit offenen Augen gesehen habe.)

Es überraschte mich, dass sich Italia trotz all des Krawalls, das diese Horden von nordafrikanischen Flüchtlingen in letzter Zeit ziemlich regelmäßig bei ihm veranstalten, so ohne weiteres dazu bereit erklärte, mir die Ehre seiner Gastfreundschaft zu erweisen (darüber hinaus scheint er Angst vor mir zu haben. Ich verstehe das einfach nicht.), doch als ich in der Alliiertenresidenz eintraf, lauerte dort zu meiner großen Überraschung nicht der übliche abgerissene Pulk aus Asylanten vor der Tür, und ich wurde von Italia mit großer Herzlichkeit empfangen und zu meiner neuen Liebe mit America beglückwünscht. (Darauf ging ich nicht näher ein. Offenbar hat da schon wieder irgendein Land geglaubt, er müsse seinen Mund weiter aufmachen, als es ihm guttut.) Es wunderte mich ein wenig, dass das gesamte Haus mehr oder weniger leer stand, wo dort doch sonst immer solch ein reges Kommen und Gehen herrscht, und Italia erklärte mir, dass Nihon momentan natürlich bei sich zuhause jede Menge zu tun habe, und Doitsu stets seine weiter nördlich gelegene Residenz aufzusuchen pflege, wenn er sich mit seinem älteren Brüderlein trifft. In letzter Zeit würde Doitsu ohnehin nur noch mit Prussia und diesem dubiosen Romano zusammenstecken, sodass er die meiste Zeit über allein sei. Da ich, was diesen Lebensbereich anbelangt, ebenfalls schon genügend schlechte Erfahrungen gemacht habe, musste ich nicht einmal meine Fantasie bemühen, um ihm ein wenig Trost zuzusprechen, während er sich für ungefähr siebzehn Minuten schluchzend an meiner Brust festklammerte.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, schlug er mir vor, das geplante gemeinschaftliche Mahl nicht hier in der Alliiertenresidenz abzuhalten, sondern bei ihm zuhause – oder genauer gesagt, in seiner bescheidenen kleinen Bleibe in der Toskana, da es mir schon seit jeher ein großes Anliegen gewesen war, seine Heimat ein bisschen besser kennen zu lernen.

 (Das ist sie. Fotos aus dem Auto heraus gelingen mir selten, aber dank Italias bekanntlich so defensivem Fahrstil ist es mir ausnahmsweise geglückt.)

Da wir nun schon länger nichts mehr miteinander unternommen haben, hatte ich nur noch eine sehr vage Vorstellung von Italias Zuhause und war daher umso empfänglicher für die Eindrücke, die mir bereits in dem Moment zuflogen, in dem wir aus dem Flugzeug stiegen.
Ich bin weites, offenes Land gewöhnt, doch ich habe noch nie eine Landschaft gesehen, die so in Sonnenlicht gebadet war wie diese. Es war, als sei ihr Schein wie mit einer Schöpfkelle über das gesamte Land ergossen worden, über jeden Baum, jeden im Wind wispernden Grashalm, jeden von Blumen umkränzten Hügel. Sogar die wenigen Wolken, die sich am Himmel zeigten, schienen ihr Licht zurück zu werfen und in ihrer Wärme zu baden. Eine Flut aus Wärme, so sanft und vergilbt wie die oft durchblätterten Seiten eines alten Tagebuchs, bereichert mit den Erinnerungen unzähliger vergangener Tage. Zwar war es so warm, dass ich tatsächlich meinen Mantel ablegen musste, aber gleichzeitig ging eine erfrischende Brise, die die Bäume und das Gras der Wiesengründe in ein leichtes, wisperleises Murmeln und Flüstern versetzte. Überall schmetterten Grillen und Zikaden ihre nimmermüden Lieder, und in den Zweigen der Akazien und Zypressen sangen Vögel. Schwalben durchschnitten in ihrem Flug die klare Luft.
Ich spürte den Frieden, der über diesem gesegneten Landstrich lag. Ich hatte bisher noch nie das Glück, die Toskana bereisen zu dürfen, doch ich fühlte mich auf sonderbare Weise an die von Sonnenblumen bewachsenen Landstriche erinnert, die manchmal des Nachts vor meinem geistigen Auge auftauchen, wenn ich nicht schlafen kann.
Italia schien diese mir so neuen Emotionen zu teilen, denn wir ließen das Auto schon sehr bald stehen und legten den Rest des Weges spazierend zurück, sodass wir noch ein wenig plaudern konnten, bevor das Essen zubereitet und serviert wurde.
Das Menü des Abends: als Vorspeise Mozzarella mit Tomaten und Basilikum, als Hauptgerichte  Spaghetti alla boscaiola und Coda alla vaccinara, und als Dessert Zuccotto.

  

 

Uff! In der Tat eine Herausforderung für mein Durchhaltevermögen, selbst trotz meines gesunden Appetits. In Italias Heimat wird das Abendessen als Hauptmahlzeit des Tages betrachtet, und es ist üblich, hierbei mindestens eine Vorspeise in Form von Antipasti oder Suppen, zwei Hauptgänge mit Reis, Fleisch oder Nudeln und ein Dessert zu reichen. Ich denke, es ist nicht übertrieben, die italienische Bella Cucina als eine der beliebtesten Küchen weltweit zu bezeichnen, was zum größten Teil vermutlich an dem reichhaltigen Speiseangebot liegt. Auch besteht die italienische Küche aus einer Vielzahl von Regionalküchen und kann wegen der geografischen Beschaffenheit des Landes auf viele verschiedene Spezialitäten zurückgreifen. Historisch gesehen lassen sich zwei hauptsächlich zwei Ausprägungen unterscheiden – die Cucina Alto-Borghese, die die exquisite Kochtradition der höher privilegierten Gesellschaftsschichten seit der Renaissance bezeichnet, und die Cucina povera, womit die regionale, eher ländlich angehauchte Küche gemeint ist.
Häufig verwendet wird bei beiden Ausprägungen Olivenöl, zum Teil auch bei den Vorspeisen, größtenteils zum Abschmecken – den Tomaten und der Mozzarella hat es jedenfalls eine wunderbare Note verliehen. Bei einer Boscaiola handelt es sich um eine Sahnesoße mit Pilzen und verschiedenen Gewürzen, während man unter einer Coda alla vaccinara einen in Olivenöl, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und Weißwein geschmorten Ochsenschwanz versteht. Zuccotto ist eng mit dem bekannteren Tiramisu verwandt, da man auch hier mit Rum oder anderem starkem Alkohol getränkte Löffelbiskuits, Schlagsahne, Zimt, Kakaopulver und manchmal auch Obst wie Kirschen oder Bananen verwendet (Italia war nach den ersten drei Bissen bereits betrunken. Mehr für mich.).
Nach dem Essen saßen wir noch bei einer Flasche Chianti auf dem Balkon beisammen und genossen den malerischen Sonnenuntergang in schweigender Zweisamkeit. Von der Furcht, die Italia bei meinem Anblick immer zu ergreifen scheint, war nichts zu spüren (vermutlich hat ihm sein reizender Bruder nur wieder irgendeinen Blödsinn erzählt), und als ich ihn sowohl zum Dank als auch zum Abschied umarmte, machte er sogar einen ganz fröhlichen Eindruck. Wir verabredeten uns noch für die kommende Woche zum Shoppen in Rom (er meinte, er bräuchte dringend mal wieder ein paar neue Hosen), bevor ich den Flieger Richtung Heimaterde bestieg.
Mein Fazit für diesen wunderbaren Ausflug?
… Ich denke, ich sollte mir ein Ferienhaus in der Toskana bauen. Italia, falls es je wieder zur Gründung einer neuen Sowjetunion kommen sollte, darfst du mein Koch sein.

In diesem Sinne – До скорой встречи!
– RUSSIA

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Des Rätsels Lösung…

15. April 2011

Привет всем!

Ein neuer Morgen ist in meinem geliebten Reich angebrochen – das Gewitter hat sich endlich verzogen und nichts weiter zurückgelassen als den Morgentau, der schillernd wie ein Mantel aus aberhunderten winzigen Perlen über den ersten aufgehenden Blüten des Frühlings liegt, am Horizont geht eine blutrote Sonne auf, in den Bäumen sind endlich wieder die Eichelhäher am Ratschen, America sitzt in einem Flugzeug Richtung Heimatplanet, und ich kann all dies vollkommen ungestört bei meinem Frühstück auf dem Balkon genießen (diesen kann ich aufgrund der allgemeinen Wetterlage bei mir zuhause zwar nur fünf- oder sechsmal im Jahr benutzen, doch es lohnt sich immer wieder).
Wie es zu dieser erfreulichen Änderung meiner bis vor kurzem noch so misslichen Lage gekommen ist?
Nun, ich würde sagen, es liegt in erster Linie daran, dass es America und mir nach stundenlanger Bastelei und Drahtfummelei gelungen war, mithilfe des Notstromaggregats für meinen Laptop die Telefonleitungen wieder zu beleben, sodass ich China-kun anrufen und ihn um Hilfe bitten konnte.
(Ja, mir ist bewusst, dass ich ebenso gut bei Denmark-kun hätte anrufen können, aber seien wir mal ehrlich – er mag ein wundervoller Freund und Weggefährte sein, doch wenn es darauf ankommt, auf möglichst effizientem Wege ein Problem aus der Welt zu schaffen, bewegt sich sein Know-How eher auf gemäßigterem Niveau. Man kann nunmal nicht alles gerade rücken, indem man einfach zur nächsten Flasche Bier greift. Aber ich schätze mal, diesem alten Irrglauben ist auch noch so manch anderes Land verfallen.)
Glücklicherweise hatte China-kun Verständnis für unsere desperate Situation und kam sofort vorbei. Ich rätsele zwar noch immer, wie er es trotz all der wild auf- und zuschnappenden Türschlösser bloß geschafft hat herein zu kommen, doch Tatsache war, dass er bereits wenige Stunden später vor meiner Salontür stand. Und nachdem es mir gelungen war, America zu beruhigen und ihm die Waffe abzunehmen, ohne dabei ein zweites Mal angeschossen zu werden, konnten wir auch sehen, wen China-kun auf seinem Weg in der Vorhalle aufgegabelt hatte.

Nun. Was soll ich sagen?
Canada mag zwar nicht jenem Typ Land angehören, das man ohne zu zaudern in die Kategorie ‚Westernheld‘ einordnen würde, doch sein Erscheinen bewirkte bei uns in diesem Moment exakt dasselbe, was der Auftritt eines solchen Westernhelden in einem Saloon bewirken würde – America fiel aus allen Wolken (China-kun und ich reagierten natürlich wesentlich gefasster. Wir passen nun einmal nicht in dieses Western-Saloon-Schießereien mit zusammengekniffenen Augen-Goldsieberschema), während sein zuckriges kleines Brüderchen nur reichlich verschüchtert in der Gegend herumstarrte und auf meine Frage hin, was er hier zu suchen habe, eines ausgewachsenen Verzweiflungsausbruchs anheim fiel.
Er sei doch mit seinem großen Bruder hierher geflogen, weil er mindestens ebenso viel Angst im Dunkeln habe wie er und sei genau wie er zur Vordertür hereingekommen, so wie sich das gehöre, habe jedoch bei all dem Zeter und Mordio, das America während des gesamten Fluges getobt habe, seine Brille verloren und sich hoffnungslos in meinem Haus verirrt, sodass er fast andauernd mit im Weg stehenden Möbeln kollidiert sei, aus Versehen den Boiler umgestoßen und versucht habe, uns durch Klopfzeichen seine Position mitzuteilen – ob wir ihn denn die ganze Zeit über nicht bemerkt hätten?
Um es kurz zu machen – unsere Reaktionen auf diese tränenreiche Suada fielen verhältnismäßig schlicht aus.

„… Aru?“ (China)

„… …“ (ich)

„HÄH??? Kannst du nicht mal ’n bisschen lauter heulen, ich versteh kein Wort!!“ (America)

Es wurde bereits viel über Canadas unselige Eigenschaft gesagt, aufgrund seiner stillen Wesensart auf jede andere Nation so gut wie durchsichtig zu wirken, und in jenem Moment zeigte sich erneut, dass er diesen Charakterzug wohl niemals ablegen wird, nicht einmal, wenn er es ernsthaft wollen würde, denn dafür ist er einfach zu unauffällig. Wer beim Sitzen in einem bequemen Stuhl ständig fremde Leute auf sich erdulden muss, weil diese davon ausgegangen waren, dass der Platz noch frei war, andauernd mit seinem eigenen Bruder verwechselt oder für ein Rudel von wildgewordenen Geistern, das Christuskind, die Heilsarmee oder Ded Moroz gehalten wird, weil man nun einmal nie in Erwägung zieht, dass er es sein könnte – dem mangelt es entweder an einer gesunden Portion Selbstbewusstsein oder einfach an intakten Stimmbändern, denn es war bereits eine Herausforderung, ihm überhaupt zuzuhören, so mäuschenleise, wie er uns seinen Kummer mitzuteilen versuchte. Ich muss wohl nicht hinzufügen, dass ich mir das gar nicht erst länger als unbedingt nötig antat und ihn stattdessen zur Wiedergutmachung Ordnung in meine vier Wände bringen ließ (und dabei gleich an Lithuanias Stelle den anfallenden Frühjahrsputz erledigen, sodass mein Haus nun mit seinem gesamten Stolz in der Frühlingssonne erstrahlen kann. Herrlich! Der Junge mag mausgrau sein, doch fleißig und arbeitsam ist er, das muss man ihm trotz allem lassen).
China-kun verabschiedete sich relativ schnell wieder, während America noch zum Nachmittagstee blieb.
Ich hatte nicht das Geringste dagegen einzuwenden.

Wenn ich auf die Geschehnisse der vergangenen Woche zurückblicke, so fällt es mir schwer zu sagen, ob ich angesichts der Tatsache, dass es sich bei all dem Wirbel unter meinem Dach nicht um Geister, sondern lediglich um Americas verhuschten kleinen Bruder gehandelt hat (wie hieß er doch gleich wieder?), nun erleichtert oder enttäuscht sein soll, doch dafür kann ich auf jeden Fall sagen, dass sowohl America als auch ich eine Menge aus diesem kuriosen kleinen Intermezzo gelernt haben – vor allem was den Umgang miteinander anbelangt. Ich hätte niemals gedacht, dass man so viel über eine andere Nation lernen könne, nur weil man mal länger als nur für einige Stunden mit ihr im selben Raum eingeschlossen ist. Nichts schweißt einen so zusammen wie eine gemeinsam durchschwitzte Zwickmühle, und auch auf unser Verhältnis hat sich dies sehr positiv ausgewirkt. Mehr als positiv.
Zum gerechten Ausgleich für die Schusswunde habe ich ihm bei unserem Abschied noch ein oder zwei Finger gebrochen, damit dürften wir wieder quitt sein.
Kurz bevor er auf meiner privaten Landebahn in sein Flugzeug stieg (selbstverständlich mit Canada im Schlepptau, China-kun hatte ihm noch vorsorglich ein riesiges rotes Ausrufezeichen auf die Stirn geklebt, damit wir ihn nicht schon wieder übersehen konnten) lud er mich noch für die kommende Woche auf einen Besuch in seinem kleinen bescheidenen Heim ein. Er habe große Pläne für sich und die Welt, in die er mich unbedingt einweihen wolle. Und jetzt, wo mein Zuhause endlich wieder ‚geisterfrei‘ ist und ich wieder meinen Geschäften nachgehen kann, bin ich auch alles andere als abgeneigt, dieses Angebot anzunehmen.
In diesem Sinne – auf zu neuen Horizonten, und До скорой встречи!

– RUSSIA

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Man lernt nie (Geisterh)aus

13. April 2011

Добрый вечер!

Nun ist es also soweit – genau eine Woche ist es am heutigen Abend her, dass mein trautes, von mir so innig geliebtes Heim vom Keller bis unter den Dachfirst mit den rastlos umherwandernden Seelen unglücklicher Verstorbener vollgepackt ist, und sich damit in eine Art Ferienhaus für die Addam’s Family verwandelt hat. (Beizeiten wird mir vorgeworfen, dass es das aufgrund meines Lebensstils sowieso schon ist, aber ich sollte wohl hinzufügen, dass ich vor einer Woche noch in die Küche gehen und mir von Lithuania eine schöne Tasse Tee kochen lassen konnte, ohne dass es sofort hinter sämtlichen Wänden zu klopfen, zu stöhnen und zu rumsen begann, als würde jemand in einem Fort Kruppstahlhelme gegen die Schächte schmeißen.)
Tja, was soll ich sagen? Allmählich beginnt unsere Lage verzweifelte Züge anzunehmen, und das aus mehreren guten Gründen – erstens wird der Sauerstoff im Salon so langsam besorgniserregend knapp (America hat bereits Halluzinationen, bei denen er immer wieder wilde, wahllose Parolen wie ‚Roswell‘, ‚Independence Day‘ und ‚Double Beef, Double Cheese, Double Bacon‘ von sich gibt und dabei versucht, auf dem Kopf zu stehen), zweitens sind sowohl die Flüssigkeitsbestände (Wodka und Molotov-Cocktails) als auch die gehorteten Lebensmittel mittlerweile endgültig zur Neige gegangen (Texas Barbecue… darüber bin ich noch am wenigsten traurig), und drittens setzt uns die immer ärgere Bedrängnis, der uns dieses Geisterpack Tag für Tag aussetzt, auf mentaler Ebene derartig zu, dass wir uns immer wieder zu den merkwürdigsten Tätigkeiten hinreißen lassen (ich hätte nie gedacht, dass man aus Americas Haaren aberhunderte winzigkleine Zöpfe flechten könnte… oder dass America mich anschießen würde, nur weil ich mich zu einer ironischen Bemerkung über das Pringles-Maskottchen hinreißen lasse. Gerade kann ich nur mit meiner linken Hand schreiben.).
Inzwischen hat der lange, stramme Flüssigkeits- und Nahrungsentzug jedoch sowohl bei America als auch bei mir eine erstaunliche Wirkung getan – er hat uns dazu gebracht, die letzten Überbleibsel unseres gesunden Nationenverstandes zusammen zu kratzen und zu versuchen, durch intensives und gezieltes Nachdenken zu einer Lösung des ganzen Dilemmas zu kommen.  Das ist das nun einmal der Brauch bei uns Atommächten – erst muss jegliche Munition verschossen, jedes Hassgefühl ausgelebt und sämtlicher Alkohol entweder konsumiert oder zu Brandbomben umfunktioniert werden, bevor wir damit anfangen können, unsere Vernunft zu bemühen. Ohne dieses Vorspiel funktioniert es bei uns beiden einfach nicht (und das kann man jetzt interpretieren, wie man will).
Das erste, worüber wir uns Gedanken gemacht haben – wieso sollte es ausgerechnet in meinem Haus spuken? Gehen geisterverseuchte Schlösser und Villen möglicherweise auf ein komplexes Zusammenspiel von normalen und paranormalen Gesetzen zurück? Warum heißt es überhaupt ‚paranormal‘, und nicht ‚antinormal‘ oder ‚disnormal‘? Haben Gespenster eine Bürokratie? Gibt es am Ende sogar Kriterien, die erst erfüllt werden müssen, bevor man Gefahr läuft, von Geistern heimgesucht zu werden?
Vor allem letztere Frage machte uns in all unserem Elend und Sauerstoffmangel schwer zu schaffen, doch da America Hollywood und ich die Vergangenheit meines Volkes als Basis für unsere Überlegungen vorweisen können, ist es uns gelungen, einen durchaus sehenswerten Register an Spukkriterien zusammen zu tragen – und da ich mir immer noch nicht wirklich sicher bin, ob wir lebend aus dieser ganzen Sache herauskommen, ist es mir selbstverständlich ein wichtiges Anliegen, diesen Register der Nachwelt zu hinterlassen.

Ein Haus kann zu einem Hort für Geister werden, wenn…

  1. … dieses Haus auf einem Indianerfriedhof, den Ruinen eines Gefängnisses, den Überresten einer Sklavengaleere, einem niedergebrannten Klubhaus der Zeugen Jehovas, einer Räuberhöhle, einem verlassenen Schlachtfeld oder einer ehemaligen Verbrennungsstätte für Hexen, korrupte Versicherungsagentinnen oder überbezahlte Stripperinnen errichtet wurde
  2. … in diesem Haus schon einmal jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist (zum Beispiel durch klassischen Mord, Vatermord, Muttermord, Kindermord, Tanten- oder Onkelmord, Opa- oder Omamord, Goldfischmord, Selbstmord, Gruppenselbstmord, Völkermord oder gleich Völkerselbstmord) 
  3. … darin Leute regelmäßig Gewalt, Stress, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Betrug, falsche Rubbellose oder besonders hartnäckige Werbevertreter ertragen müssen
  4. … man darin einen Hausmeister mit Hut und rot-schwarz gestreiftem Pullover bei lebendigem Leibe verbrannt hat und er daraufhin geschworen hat, in den Träumen der Kinder Rache für sein Schicksal zu nehmen. 
  5. … die Telefone in diesem Haus andauernd klingeln, und man entweder gesagt bekommt, dass man nur noch 7 Tage zu leben hat, von einem dubiosen Kerl namens Indrid Cold mysteriöse Prophezeiungen über einstürzende Brücken bekommt, oder gleich seinen eigenen Tod mit anhören darf
  6. … man darin nicht in Ruhe ein Bad nehmen kann, ohne dass gleich ein schwarzhaariges, geistig verwirrtes Mädchen in der Wanne auftaucht und einen zu ertränken versucht
  7. … die dort lebenden Personen, bevorzugt Kinder, andauernd tote Menschen sehen (oder sie zumindest zu sehen glauben, auch wenn es sich nur um Opa handelt, der mal wieder auf dem Sofa eingeschlafen ist)
  8. … Frauen darin ohne erkennbare Ursache schwanger werden
  9. … Jungfrauen dort nicht hingehen können, ohne zu verschwinden und in Form von handgerechten Einzelteilen im nächstbesten See wieder auftauchen
  10. … die darin lebende Person/Familie einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist, denn auf Dauer geht das niemals gut (und damit meine ich auch niemals. Darauf kann man getrost die, sagen wir mal, Zukunft der Sowjetunion verwetten.)
  11. … es dort schwarze Katzen, schlecht gestimmte Klaviere, einen grün gekleideten Italiener mit einem viel zu berühmten großen Bruder, einen merkwürdigen buckligen kleinen Professor mit nur einem Zahn und etwa fünf langen weißen Haaren oder eine stehengebliebene Uhr gibt
  12. … wenn… wenn… ach, Ursachen gibt es doch wie Sand am Meer! Versteck dich lieber und ruf die Ghostbusters, wahrscheinlich ist in deinem Haus schon längst ein ganzer Friedhof am Steppen!

Ich sollte vielleicht anmerken, dass auf mein Haus ein gutes Dreiviertel der hier aufgelisteten Punkte zutrifft, also ist es bei Licht betrachtet eher verwunderlich, dass sich die lieben Damen und Herren Geister erst jetzt dazu entschieden haben, hier mal ordentlich Rabbatz zu machen. Momentan stecken wir noch mitten in der Arbeit an einem Register für Maßnahmen gegen Geisterbefall, indem wir sämtliche Horrorfilme durchgehen, die mein DVD-Regal zu bieten hat, doch da wir aus dieser desolaten Situation bereits jede Menge lernen konnten, ohne einen Ausweg gefunden zu haben, können wir zusätzlich zu unserem Register für Spukkriterien auch noch einen Register für Ratschläge im Falle eines Geisterbefalls präsentieren – Ratschläge, die samt und sonders auf den Lektionen aufbauen, die wir beide im Lauf dieser Woche sowie im Schweiße unseres Angesichtes gelernt haben.

Ist dein Haus erst einmal von Geistern besetzt, sollte man niemals…

  1. … zu einer Schusswaffe greifen. Mit herkömmlicher Munition kommt man diesen Biestern einfach nicht bei, nicht einmal, wenn man der Präsident der Vereinigten Staaten, ein Mitglied der Schweizer Bürgerwehr oder Arnold Schwarzenegger ist
  2. … versuchen, öfter als nötig Kontakt mit den Geistern aufzunehmen. Es stimmt sie nicht gnädiger, und einem selbst zerrt so ein Zwiegespräch zwischen Lebenden und Toten ganz schön an den Nerven, selbst wenn man nur stundenlang mit den Fingerknöcheln Morsezeichen gegen die Wände trommelt – am wenigsten ratsam im Fall von Flüssigkeits- und Sauerstoffmangel.
  3. … glauben, dass man das Gesocks los wird, indem man sich oder anderen eine Bibel der christlich-orthodoxen Kirche gegen den Schädel donnert.
  4. … Musik von Janet Jackson anhören. Das bringt nur auf dumme Gedanken (besonders riskant: ‚Love me just a little while‘ und ‚I want you‘.).
  5. allzu intime Küsse austauschen, wenn man vorher fast eine ganze Packung Pringles der Geschmacksrichtung Texas Barbecue verzehrt hat. Der Nachgeschmack ist einfach grauenhaft…

Und auf jeden Fall sollte man…

  1. … einen kühlen Kopf bewahren, das hilft beim Treffen von sinnmachenden Entscheidungen
  2. … genügend Flüssigkeit und Lebensmittel horten
  3. … dafür sorgen, dass es sich dabei um abwechslungsreiche Lebensmittel handelt
  4. … sich beim Atmen ein Nasenloch zuhalten. Das senkt den Sauerstoffverbrauch.
  5. … sachlich bleiben. Geisterbefall ist eine ernste Angelegenheit, und kein Abenteuerdate in Disneyland.

Trotz unserer verzweifelten Lage erfüllt es mich mit Freude und Stolz, einen solch wichtigen Beitrag zur allgemeinen Weltsicherheit beigetragen zu haben, bevor ich entweder dank dieser verflixten Schusswunde ins Koma falle oder durch Verkümmerung meiner Geschmacksnerven über den Jordan gehe. Unsere Arbeit an einem Weg aus unserer desolaten Situation geht unterdessen weiter. Seid im Geiste mit uns, meine Brüder.
До свидания!

– RUSSIA

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Der Spuk geht weiter

12. April 2011

Добрый день…

Fast eine Woche ist vergangen, seit America bei Regen und Wind vor meiner Tür stand und mein Haus praktisch über Nacht zu einer Art Spukvilla geworden ist, und so langsam fange ich an, das wahre Ausmaß des alten Sprichworts ‚Ein Unglück kommt selten allein‘ zu begreifen, denn allmählich beschleicht mich der Verdacht, dass sich die unheimlichen Vorgänge in meinen einst so friedlichen vier Wänden von Nacht zu Nacht häufen (und America ist, was dies anbelangt, auch noch derselben Meinung. Ein sonderbares Gefühl.)
In der vergangenen Nacht habe ich während meiner Wachschicht über die sonderbaren Vorkommnisse in meinem Heim Buch geführt, falls aufgrund eines tragischen Unfalls oder eines andertweitigen Schicksalsschlages ein Zeugnis für die Nachwelt vonnöten sein sollte (denn schießlich könnte sich America umbringen. Vor Verzweiflung. Aus Versehen. Ich werde schon irgendeinen Grund finden. ). Hier eine Abschrift dessen, was sich in den düsteren Stunden der hinter uns liegenden Nacht zugetragen hat:

  • Unerklärliche Schritte im gesamten Haus. Allerdings ist es unmöglich zu sagen, ob sie nur von einem oder mehreren Paaren Füßen herrühren. Ab und an erscheint das Getrampel so laut, dass man schon befürchten muss, die Decke könnte jeden Augenblick herunterkommen. Ich mag diese Augenblicke nicht sonderlich, da America sie jedesmal zum Anlass nimmt, zu schreien, als ob er bereits den Flammen des Hades zum Opfer gefallen wäre, und mit seiner Smith&Wesson um sich zu schießen. Mittlerweile habe ich es aufgegeben, die Löcher in der Tapete zu zählen.
  • Plötzlicher, wahlloser Temperaturenabfall und -anstieg. Aufgrund der doch recht langen Kälteperioden in meinem Reich achte ich selbstverständlich darauf, dass in meinem Haus immer anständig geheizt ist, doch dass man in einem Augenblick noch aus allen Poren schwitzt und bereits im nächsten mitsamt seinem eigenem Schweiß am Boden festfriert, habe ich bis dato noch nie erlebt. Langsam werde ich dieses Effektes überdrüssig (es ist nur lustig, wenn man ihn an anderen beobachten kann.).
  • Klopfen und flüsternde Stimmen aus den Heizschächten. Jedesmal, wenn ich dieses sonderbare, unirdische Wispern, Stöhnen und Röcheln vernehme, drücke ich ein Ohr an die Schachtwand und versuche, etwas davon zu verstehen, doch alles was ich heraushöre, ist ‚glasses‘. Wieder und wieder. Es ist jedoch denkbar schwer, eine Botschaft begreifen zu wollen, die nur aus einem Wort besteht, und hinzu kommt, dass America regelmäßig wie am Spieß zu schreien beginnt, sobald die Stimmen erneut hörbar werden. 
  • Rückende Möbel. Meistens zu hören, wenn die Schritte verklungen sind. Ich muss hinzufügen, dass mein Amöbelang aus sehr massivem Holz besteht und ich Lithuania oft helfen muss, wenn er mal wieder Großputz hält, da er die Schränke nicht allein bewegen kann. Schlussfolgerung: wer oder was auch immer die Möbel bewegt, muss sehr stark sein.
  • Geräuschvolles Schreien und Weinen aus dem Keller. Dabei ist der Keller doch der friedlichste Ort in meinem Haus! Es geht mir einfach nicht ein.
  • Sporadisches Schließen und Öffnen von Türen und Fenstern. Was bereits erklären dürfte, warum wir nicht einfach das Haus verlassen haben und immer noch im Salon festsitzen. Und langsam wird die Luft hier drin ganz schön stickig. Ich hoffe bloß, an dem alten Grundsatz, dass zwei Männer nur lange genug im selben Raum eingesperrt sein müssen, um einander umzubringen, ist weniger dran als alle immer behaupten.

So geht es nun schon seit 6 Tagen, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Selbst heute, am 50. Jahrestag des ersten sowjetisch bemannten Weltraumfluges mit der Восток-1 (die erste vollständige Erdumkreisung der Weltgeschichte, der bisher größte Meilenstein der russischen Raumfahrt! Das waren vielleicht noch Zeiten!), den ich eigentlich festlich begehen wollte, gehen die sonderbaren Aktivitäten unvermindert weiter, sodass ich weder an den Kuchen herankomme, den Lithuania extra für diesen denkwürdigen Tag gebacken hat (in Raumfährenform. Niedlich.), noch die guten Kerzen anzünden kann, die ich eigens dafür aufgehoben hatte.
Das einzig gute an der Sache ist, dass ich mit meinem Kummer nicht alleine bin, denn auch für America wäre der heutige Tag ein Anlass zum Feiern gewesen,  da sich das erste Gefecht des Amerikanischen Bürgerkrieges am Fort Sumter in South Carolina heute zum 150sten Mal jährt. Während er mir von dem Kampfgetümmel erzählte, von den Wirren des Krieges, von verlorener und wieder aufblühender Hoffnung, von ausgestandenen Ängsten und erlittenen Verlusten, wurde mir einmal öfter klar, dass wir uns möglicherweise doch ähnlicher sind, als wir beide es uns eingestehen wollen.
Wir kennen die kalte, raue Sprache des Krieges. Wir kennen den Rausch des Sieges, aber auch die Bitternis der Niederlage. Und vor allem haben wir beide dadurch dieselbe Lektion gelernt – es ist oft besser, einen ehrlichen Feind zu haben als einen schmeichelnden Freund. Ich schätze, es war der erste Moment seit langem, in dem wir einander wieder offen in die Augen sehen konnten.
Ich würde nicht so weit gehen, America und mich als Freunde zu bezeichnen, doch in diesem Augenblick waren wir uns vermutlich näher, als es sich andere, die sich Freunde nennen, ein Leben lang sind.
Gemeinsam funktionierten wir mehrere Molotow-Cocktails in Kerzen um, machten die letzte Packung Pringles auf (immer noch Texas Barbecue… stöhn) und verbringen den Rest des Tages nun in schweigender Zweisamkeit.
Offenbar sollte ich dem Sprichwort ‚Ein Unglück kommt selten allein‘ noch eine Randnotiz hinzufügen – Glück im Unglück.

Alles Liebe zum Jahrestag, Восток-1, und До скорой встречи.
– RUSSIA

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Die Geister, die ich (nicht) rief…

6. April 2011

Добрый вечер, meine geneigten Leser!

Es ist doch immer wieder faszinierend, zu welch erstaunlichen Erkenntnissen man beizeiten gelangen kann, wenn man nach einer langen Phase der lebhaften gesellschaftlichen Interaktion mal wieder einige Tage in klösterlicher Einsamkeit verbringt. Und so bin ich erst am jüngst vergangenen Abend zu einer (jedenfalls für mich) schockierenden Einsicht gekommen – in meinem Haus spukt es.
Ich kann das Stirnrunzeln alljener, die dies Gedruckte hier lesen, schon jetzt spüren. Ja, mir ist bewusst, dass diese Erkenntnis zweifelsohne den Eindruck einer von den Wehen des Wodka hervorgebrachten Rauschfantasie erweckt, und ja, ich muss ebenfalls zugeben, dass mein Volk schon seit seiner Zeit unter der Führung der Tartaren zu einem gewissen Aberglauben neigt, aber ich kann mir nun einmal nicht helfen – Geschichte bleibt Geschichte, Neigung bleibt Neigung, und bis jetzt deuten sämtliche Zeichen darauf hin, dass mein Haus von Geistern nur so verseucht ist, und das sogar erst seit kurzem.
Dabei hatte der Abend einen so vielversprechenden Anfang genommen – sämtliche Besucherschaft, die noch bis vor kurzem in meinem Haus ein- und ausgegangen war, befand sich auf dem Rückflug in die Heimatresidenzen, meine drei baltischen Sklavendeppen Freunde hatte ich auf eine mehrtägige Verrichtung aller anfallenden Drecksarbeiten Inspektionsreise nach Sibirien geschickt, im Fernsehen lief eine Dokumentation über die phänomenalen sexuellen Verfehlungen der Hohenzollern-Familie im Grunewald  (unter der Leitung eines gewissen Leberecht von Kotze… diese Preußen hatten wirklich schon immer einen Sinn für einprägsame Familiennamen) – und all dies konnte ich nun vollkommen ungestört in meinem Lieblingsbademantel (Chapurin) und unter meiner Lieblingsdecke (selbstgestrickt) bei meinem Lieblingswodka (Wodka Kalaschnikow, eigentlich für den US-Export bestimmt) und meinen Lieblingssüßigkeiten (Piroshki) genießen. Da mittlerweile auch in meinem Reich die Thermometeranzeige allmählich höher klettert, blieb an jenem schicksalhaften Abend zum ersten Mal der zu Winterzeiten typische Schneefall aus. Stattdessen regnete es in Strömen (ja, das ist bei mir zuhause tatsächlich im Bereich des Möglichen), was ich, behaglich eingemümmelt in Bademantel und Lieblingsdecke, anfangs jedoch nur als bequemlichkeitsfördernd empfand. Allerdings sollte dieses ‚anfangs‘ nicht sonderlich lange währen, denn mitten im spannendsten Teil der Dokumentation (die Beschreibung der von der Hohenzollern-Familie angewandten sexuellen Riten) klopfte es plötzlich ohne jede Vorwarnung an meiner Tür.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einige Dinge im Vorab sagen – so muss ich zum Beispiel sagen, dass ich Besuch mag. Aber ich muss auch sagen, dass ich diesen Besuch um einiges lieber mag, wenn es sich dabei um angekündigten Besuch handelt. Und ergänzend sollte ich vielleicht noch sagen, dass ich den Besuch noch viel lieber mag, wenn er in den Stunden des Tags bei mir erscheint, und nicht zwischen zweiundzwanzig Uhr und drei Uhr morgens. Also kann ich zusammenfassend sagen, dass es mich höllisch angekotzt nicht gerade in hellste Freude versetzt hat, diesem unangekündigten plus mitternächtlichen Besuch die Tür öffnen zu müssen (die öffne ich nämlich immer. Absolut immer. Ob der Besuch dann noch bleiben will, ist wieder was anderes).
Tja. Und nun ratet, wer da durchnässt, zitternd wie ein enthaarter Eisbär und mit Nerven wie die Geigensaiten des Niccolo Paganini in meinem Hauseingang stand.

 (Ganz genau. Das macht er übrigens immer, wenn er mich von weitem sieht und glaubt, dass ich ihn noch nicht bemerkt habe…)

Vielleicht sollte ich erneut einige Dinge im Vorab sagen – seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Niedergang der Sowjetunion führen America und ich durchaus etwas, das man als eine Beziehung bezeichnen könnte. In poetischen Momenten halte ich unsere kuriose kleine Bekanntschaft sogar für so etwas wie eine unmögliche Liebe, während ich sie in frustrierten Momenten als Spätfolgen eines höllischen Suffs betrachte. Wir haben eine Menge füreinander übrig, respektieren und bewundern einander für unsere jeweilige Machtstellung in der Welt, doch für eine wirklich handfeste Liebe sind wir vermutlich einfach zu verschieden. Und aufgrund dieser dramatischen Verschiedenheit stellte es mich auch vor eine gewisse Herausforderung, Americas selbstmitleiddurchweichter Suada zu lauschen, aus der ich lediglich Brocken wie ‚alone at home‘, ’scary‘, ‚creepy‘, ‚eery‘ und ’spooky‘ herauszufiltern vermochte  (wieso glaubt er auch immer, alle Welt müsse Englisch mit ihm sprechen? Fünf Wörterbücher für fundierte Grundkenntnisse des Russischen habe ich ihm schon geschenkt, wann wird er diese Andeutung endlich verstehen?). Dieser fragmenthaften Rede entnahm ich, dass er an jenem Abend ebenso wie ich allein zuhause gewesen war, nur dass er darin weitaus mehr Probleme sah als ich und auch genau aus diesem Grund meine Nähe suchte. Ich hatte ja schon von der krankhaften Paranoia gehört, die diese Außeröstlichen jedesmal überkommt, wenn sie sich nicht zu riesigen Mobs zusammenrotten können und ihnen das ‚Schrecklich nette Familie‘-Gefühl, in dem sie sich mit solch säuischer Wonne suhlen, so ganz und gar abgeht – doch dass er es deswegen gleich so übertreiben musste? Bescheidentlich anzumerken, dass ich für den heutigen Abend eigentlich bereits indisponiert sei und es bestimmt nur zu unnötigen (und vor allem unnötig anzüglichen) Gerüchten führen würde, wenn America einfach so mirnichts dirnichts über Nacht blieb, erzielte höchstens denselben Effekt wie ein Ritt gegen Windmühlen, denn noch mitten in der schönsten Darlegung kam das tropfnasse, von Wind und Kummer gebeutelte American Sweetheart auch schon mit dem versammelten Elan einer wilden Elefantenhorde in den Hausflur getrampelt und drückte mir im Vorbeigehen lediglich seine Fliegerjacke in die Hand. Sie roch nach Cheeseburgern, plattgesessenen Autositzbezügen und Obsession Night von Calvin Klein. Die Mischung ließ mich im wahrsten Sinn des Wortes Sterne sehen, aber ich hielt ihn nicht auf. Was soll man auch schon mit einem von Regen und Dramatik durchtränktem Amerikaner anstellen, wenn er so ohne jede mentale Vorbereitung auf der Fußmatte erscheint? Mein Hass auf alles Kapitalistische mag tief verwurzelt sein, doch die einzigen realistischen Alternativen wären gewesen, ihn 1. zu erschießen, 2. zu erschlagen, 3. mit seiner eigenen Jacke zu erdrosseln, 4. einfach rauszuschmeißen oder 5. mit ihm zu diskutieren. Punkt 3 war mein persönlicher Favorit, aber da man ja bekanntlich nicht nur an seinen eigenen Spaß denken soll, wählte ich Punkt 5 und folgte ihm Richtung Salon, wo er es sich bereits unter meiner Lieblingsdecke bequem gemacht hatte. Die geplante Diskussion scheiterte jedoch schon im Ansatz, da mir als Antwort auf meine Frage, weshalb er denn ausgerechnet zu mir kommen würde und nicht zu England oder France, im Prinzip nur vorgeworfen wurde, ein kaltherziger, kommunistischer Russe zu sein (und vor allem den letzten Aspekt kann ich ja nun wirklich nicht bestreiten), den es nicht kümmerte, wenn die Leute um ihn herum dem Kummertode nahe waren.  Ich nehme an, dieses herzallerliebste Gespräch wäre wohl noch über Stunden hinweg in demselben Ton verlaufen, wären nicht plötzlich mit einem Schlag sämtliche Lichter ausgegangen, sodass in meinem sonst immer so heimelig erleuchteten Heim nun Grabesfinsternis herrschte.
Da ich es seit meiner zartesten Jugend gewöhnt bin, die meiste Zeit des Jahres in winterlicher Dunkelheit zu verbringen, vermutete ich schlicht, dass irgendwo in der Nähe ein Blitz eingeschlagen haben musste, denn mittlerweile hatte sich der Regen draußen in den reinsten Gewittersturm verwandelt, während America es vorzog, wie am Spieß zu schreien. Ich nehme an, das macht die unnötig viele Sonne in Kalifornien – wenn man nur lange genug dort lebt, glaubt man nach einer Weile vermutlich, der Tag würde niemals enden. Auf seine hysterischen Bitten hin, das Licht wieder anzuknipsen, versah ich mich mit einer Kerze und machte mich auf den Weg Richtung Sicherungskasten, doch es gelang mir nicht einmal, die Nase aus der Salontür zu stecken, als ich es plötzlich hörte (und America hörte es vermutlich auch, denn er hatte sich aus Furcht, alleine sitzen zu bleiben, umgehend an meine Fersen geheftet).
Träge, ungelenk patschende Schritte in der Eingangshalle. Und sie kamen immer näher.
Auf meine Frage hin, ob ihm jemand auf seinem Weg gefolgt sei, antwortete America nur mit einem phänomenalen Nervenzusammenbruch, und bereits im nächsten Augenblick steckte er auch schon unter meinem Bademantel. Ich war schon dabei, meine Fingerknöchel für einen rigorosen Vergeltungsschlag zu lockern, doch die nicht abfallenden Schritte in der Eingangshalle nahmen meine Aufmerksamkeit einfach zu sehr in Anspruch. Ich konnte den Gang mit der Kerze ausleuchten, so oft ich wollte – nie konnte ich den Verursacher der Schritte ausfindig machen, obwohl es sich teilweise anhörte, als stünde dieser nur wenige Meter entfernt. Der gesamte Korridor hallte wie von einem matten, kurzatmigen Seufzen und Wispern, das sich fast anhörte wie das nicht enden wollende Mantra eines Fluches, feindseliger und kälter mit jedem Augenblick. Die polternden Schritte näherten sich immer weiter, bis ein Schwall eisiger Kälte an uns vorbeistrich und uns den Atem verschlug. Wenige Augenblicke später schienen die Schritte auf den Stufen zu verhallen. Auf sonderbare Weise erinnerte mich dieses Gefühl an die Gegenwart des Generals.
Die Zeit der ersten Paktschließung schien auf einmal erschreckend nahe.
Dennoch war es mein Plan, den Schritten zu folgen. Americas Plan hingegen war es, unverderbliche Lebensmittel zu horten, sich im Salon zu verbarrikadieren, sämtliche schwere Waffen heraus zu holen und auf den nächsten Morgen zu warten. Und tja, was soll ich sagen? Ich bin bei vielen Ländern für meine Nachsichtigkeit gegenüber der Dummheit Naivität anderer Nationen bekannt, und so kam es, dass wir nun, wo ich dies schreibe (ich wusste, dieses tragbare Notstromaggregat für den Laptop würde sich eines Tages lohnen) im Salon hinter dem zu Feuerschutzzwecken umgeworfenen Sofa sitzen, America mit seiner geliebten Smith & Wesson, ich mit meiner noch viel mehr geliebteren Spitzhacke, und wir beide mit jeweils einer Packung Pringles (Texas Barbecue. Eine andere Sorte hatte America leider nicht dabei.), um auf den nächsten Morgen zu warten. Die Schritte bewegen sich mittlerweile im ersten Stock, und sie sind so laut, dass sie auf keinen Fall nur von einem Paar Füße stammen können. Das klagende Wispern und Murmeln dringt bis in den Kamin hinab und bringt uns zum Schaudern. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.
Und was lernen wir aus dieser Sache? Lasst niemals einen frustrierten Amerikaner in euer Haus, wenn ihr gerade allein seid, denn er könnte ja eine Horde von Geistern mitbringen! Wir warten auf den Sonnenaufgang und überprüfen dann die Lage, etwas anderes wird uns in unserer jetzigen Lage kaum übrig bleiben.
Bis hoffentlich einstweilen, und До свидания…

– RUSSIA